Überraschung am Kap
Egal wo wir in den letzten Jahren unterwegs waren, immer trafen wir Langzeit-Radler während unserer Touren. Speziell Europäer sind viel in der Welt unterwegs. Einen Inder haben wir noch nie getroffen. Am Kap Komorin ist es dann soweit.
Da wir aus eigener Erfahrung wissen, dass sich Radler immer freuen, wenn man sich mit ihnen unterhält, stoppen wir als wir plötzlich den jungen Mann mit seinem bepacktem Fahrrad sehen. In der Regel fragen wir, ob der Radler oder die Radlerin Hilfe, Wasser oder irgendwas anderes brauchen. Auch, Abhishek Kumar Sharma, fragen wir. Er braucht wirklich nichts, sagt er. Aber unterhalten möchte er sich sehr gerne mit uns. Es wird eine sehr lange Unterhaltung, denn Abhishek möchte uns viel erzählen.
Studiert hat er Philosophie. Nach Abschluss seines Studiums hat er, wie viele junge Inder auch, keine Arbeit gefunden. Da stellte er sich die Frage, was mache ich nun? Da seine Gedankenwelt sich häufig mit indischen Umweltproblemen herumquält, wollte er irgend etwas in dieser Richtung tun. Es war ihm regelrecht ein Bedürfnis. Er stellte sich die Fragen, wie kann ich viele Menschen erreichen, ihnen meine Mission erklären, und wie kann ich dies ohne große Geldausgaben erreichen?
Nach kurzer Zeit stand sein Plan! Ich werde Indien ein Jahr lang mit dem Fahrrad umrunden, dabei meine Botschaften den Menschen erklären. Er bemühte sich um Sponsoren. Ein absoluter Glückssponsor ist dabei ein Fahrradhersteller aus Bangladesch, denn dieser stellt ihm für die Tour insgesamt 4 unterschiedliche Fahrräder zur Verfügung. Nach jeweils 3 Monaten übergibt ein Firmenmitarbeiter das nächste Fahrrad an einem vorher vereinbarten Ort.
Der unermüdliche Abhishek bekommt sogar einen Termin beim indischen Umweltminister. Der findet seine Ideen gut. Das Empfehlungsschreiben vom Umweltminister wird seine größte Trumpfkarte unterwegs, denn neben der erklärenden Verbindung zum Umweltplan der Regierung von 2014, werden auch alle Inder aufgefordert, den Umwelt-Radler zu unterstützen.
Am 10. November 2014 startet er seine Tour. In wenigen Wochen wird sie am Ausgangspunkt beenden. 15 Tausend Kilometer wird er dann geradelt sein.
Ich bin begeistert, diesen so außergewöhnlichen Inder getroffen zu haben. Er ist der erste Inder mit dem wir uns unterhalten, welcher von ganz alleine über eines der größten indischen Probleme spricht. Es ist die Umweltverschmutzung und alles was damit irgendwie zusammenhängt.
Wir waren noch in keinem Land, wo so schlimme Umweltsünden wie in Indien täglich ersichtlich sind. Es ist wirklich absolut krass. Flüsse sind nur einige Meter im Umkreis der Quelle nicht verunreinigt. Die meisten Seen sind vermüllt. Grundwasser ist in vielen Regionen verseucht. Gäbe es in Indien Smogalarm, ständig würden die Signale tönen. Der indische Fuhrpark ist total überaltert und nimmt ständig zu. Abgaswolke. Sauberes Trinkwasser kann sich nur ein kleiner Teil der Inder leisten.
Wir kennen auch kein weiteres Land, wo so viel in die Landschaft gekackt und uriniert wird. Ganze Dörfer und auch Stadtteile verfügen über keine Toiletten oder gar ein Kanalsystem. In Schulen fehlt oft die Toilette oder es gibt für Männchen und Weibchen nur eine Gemeinschaftstoilette. Schätzungsweise hat ein Drittel der Inder keine eigene Toilette. Da ein Drittel dann mindestens 400 Millionen Menschen sein müssen, wird einem dieses rein menschliche Problem gravierend bewusst. Und um genau dieses Problem kümmert sich Abhishek auch.
Er sagt, es kann doch nicht sein, dass fast 70 Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer so viele Inder täglich die Straße, den Park, den Strand, die Wiese oder das Feld als Toilette benutzen müssen.
Der junge Mann fasziniert uns. Er legt den Finger in so manche indische Wunde.
Neben dem ernsthaften Umweltaktivisten, sind wir auch von Kanyakumari selbst begeistert. Die Stadt am südlichsten Festlandpunkt von Indien hat einiges zu bieten. Es gibt da zwei vorgelagerte Inseln.
Genau hier vereinigen sich drei Meere. Doch nicht nur wegen dieser wässrigen Vereinigung, strömen viele Inder ans Kap. Es sind auch die Inseln und das Städtchen selbst. Das Hinterland mit seinen bizarren Granitfelsen und den silbrig schimmernden Reisfelder dazwischen, nötigen einem zudem, Ausflüge ins weitere Umland zu unternehmen.
Direkt an den quirligen Vereinigungswellen befindet sich der Tempel der jungfräulichen Meeresgöttin. Da männliche Besucher beim Betreten des Tempels ihr Hemd ausziehen müssen, tue ich dies natürlich auch. Ich tue es sogar sehr freudig, denn es sind um die 35 Grad.
Nicht weit vom Tempel ist der Fährableger für die Inseln. Auf der einen Insel befindet sich ein Denkmal. Es ist einem berühmten Wandermönch (Swami Vivekananda) gewidmet. Er meditierte längere Zeit auf der Insel zu sozialer Gerechtigkeit im Hinduismus.
Dies ist alles natürlich sehr interessant. Doch weit interessanter empfinde ich aber unsere echt sehr kurze Fährüberfahrt, denn nicht nur Loriot hätte dabei seine Freude gehabt. Um die hundert Schwimmwesten sorgen für ordentlich Stimmung auf der Fähre.
Und genau dieses Schwimmwesten-Problem haben fast alle indischen Touristen an Bord. Da spielen sich unbeschreibliche lustige Szenen ab. Alles was man nur falsch machen kann, wird hundertfach auch falsch gemacht. Um die Show nicht abzuwürgen, hat Gi die Idee, dass auch wir uns, als die einzigen Ausländer an Bord, ebenfalls als Westen- Anlegeamateure benehmen. So können die Inder über uns lachen, und wir hundertfach über die Inder. Erst als sich ein Mann fast mit seinen Westenleinen stranguliert, greift die Bordbesatzung ein. Er ist der Held des Tages, denn nach unendlich erscheinender lustiger Zeit, erklärt endlich jemand, wie man solch ein Monstrum anlegt. Loriot, hätte wirklich seine Freude gehabt.
Neben der Lustigkeit auf der Fähre hat die Stadt auch viel schönes zu bieten. Wie fast überall in Indiens Städten ist auch hier die Aufteilung der Religion geschuldet. Man lebt halt lieber unter sich. Was aber allen gemein hier ist, sie verstehen ihre Lebensbereiche attraktiv zu gestalten. Nur sehr selten sahen wir in Indien bisher solch eine Buntheit an Häusern, solch saubere Gassen und soviel Grünpflanzen zwischen all den Annehmlichkeiten. Dies tut unseren Augen sehr gut.
So durchstreifen wir täglich eines der Viertel, dabei immer auf der Suche nach dem Hauptplatz.
Der Hauptplatz ist die Kirche. Im christlichen Viertel findet gerade eine Messe statt. Wir werden eingeladen, sind sozusagen Ehrengäste, denn 2 Stühle werden geschwind herbeigeschafft. So überblicken wir den ganzen Kirchenvorplatz. Wegen der Wärme geht niemand in die stickige Kirchenhalle.
Die Frauen sitzen mit ihren Kindern getrennt von den wenigen Männern. Alles wirkt sehr feierlich auf uns, sehr andächtig, sehr emotional. Ich bin ständig beim schauen, bin begeistert von den Momentaufnahmen in meinem Kopf. Die bunte Sariwelt verwebt sich dabei mit den Gesängen, dem Geläut der Kirchenglocken und der friedlichen Stimmung auf dem Platz.
Was ich in all den Jahren festgestellt habe, immer wenn es in Ländern an Armut nicht mangelt, sind die Menschen bei ihrer Religionshingabe besonders andächtig, gerührt, versunken, aufmerksam und meist zutiefst ergriffen. Es bereitet mir Freude und Angst zugleich, denn ich lese aus den Gesichtern leider auch Sorge, Leid und Zukunftsangst.
An einem Freitag besuchen wir die Moschee. Auch hier werden wir, für das so wichtige Freitagsgebet, eingeladen. Was mir dabei auffällt? Genau wie in den indischen Kirchen und in den Tempeln, nehmen auch hier Angehörige anderer Religionen an den jeweiligen Götterdiensten teil. Ist es Interesse oder nur Neugier? Egal, zumindest finde ich es gut.
Alles scheint hier irgendwie harmonisch. Diese Friedlichkeit tut sehr gut, denn Indien ist leider auch bekannt für seine nicht friedlichen Auseinandersetzungen zwischen den Religionen. In diesem Moment wünsche ich mir, mögen all diese friedlichen Schwingungen vom Kap Komorin sich rasend schnell über unsere Welt verteilen. Bitter nötig wäre es ja!
Am Kap überlegen wir, welche Richtung wir weiter tuckern werden. Weiter entlang der Ostküste Richtung Norden macht wettermäßig wenig Sinn. Die letzten Wochen hatte endlich der Regen an der Westküste aufgehört. Dieser wird nun in den nächsten Wochen, als Monsun an die Ostküste wechseln.
Deshalb tuckern wir zurück nach Palolem, zur Bucht der geilen Sonnenuntergänge. Die über 1000 Kilometer machen viel Freude, denn wir kennen ja bereits für unterwegs die besten Übernachtungsplätze und die schönsten Strände.
Zu vermuten wäre, Kampfmaschine macht erneut Probleme, doch dem ist nicht so. Die Segnung durch den Sadhu war bisher absolut wasserdicht.
Irgendwann biege ich nach rechts ab. Wir wollen unbedingt nach Hampi.
Auf der Strecke nach Hampi bin ich kurz vorm ausrasten, denn am ersten Tag rauscht uns ein Mopet von hinten ins gesegnete Motorrad. Das Moped selbst wurde erst durch ein Auto richtig in Schwung versetzt, um Kampfmaschine tüchtig zu rempeln. Mit viel Mühe kann ich Kampfmaschine halten. Drei Leute purzeln auf der Straße herum. Es sind Vater, Mutter und Kind vom Mopet. Das Auto hat eine echt große Delle im Kotflügel.
Zum Glück ist den Mopethelden körperlich nichts passiert. Zumindest können die gleich richtig loslegen.
Gemeinsam mit dem Autofahrer brüllen sie nämlich die Schuldfrage durch die Gegend. Die mindestens 30 versammelten Inder am Wegesrand – wo die nur immer so schnell herkommen? - nicken alle mit den Köpfen. Dies bedeutet natürlich, wir sind Schuld. Wir brüllen sogleich zurück. Wir brüllen gegen die Ungerechtigkeit. Dies scheint zumindest einen Wegesrand- Inder mächtig zu imponieren, denn er brüllt nun in die Gegend, wir wären nun wirklich nicht schuldig. So nebenbei sagt er uns ganz leise aber nachdrücklich: Fahrt einfach weiter! Ist am besten so!
Und genau dies tun wir.
Am nächsten Tag, wir tuckern recht gemütlich einer schönen Allee entlang, sehe ich eine Gruppe von Frauen vor uns. Als ich an ihnen vorbei tuckern will, springt wie von Geisterhand eine Junge aus der Frauengruppe.
Automatisch trete und zerre ich mit aller Wucht die Bremsklötze. Es quietscht fürchterlich. Kampfmaschine will ausbüchsen. Irgendwie kommen wir ohne Sturz davon. Das nächste Wunder? Zwischen dem Jungen und Kampfmaschine waren nur noch wenige Zentimeter Luftfreiheit.
Ich setzte mich an den Straßenrand, atme tief durch. Ich stelle mir kurz vor, was passiert wäre, hätte es die luftigen paar Zentimeter nicht gegeben.
Ich sehe hunderte brüllender Inder am Straßenrand. Alle schreien: Du Mörder! Ich sehe mich im indischen Knast. Meine Mitbewohner sind tausende von Kakerlaken.
In Hampi angekommen, hole ich mir sofort Rat bei den Sadhus.
Ihr Rat? Konzentriere dich mehr! Versuche immer zu erahnen, was die anderen Menschen jetzt tun werden! Wenn du dies machst, wird nichts mehr passieren, denn deine Gedankenwelt wird Indisch sein. Dies ist der beste Weg.
Dabei schaut einer der Sadhus, mit irgendwie verlorenen Augen, in eine für mich verschlossene Welt. Er scheint weit weg zu sein.
Hampi ist eine indische Besonderheit. Ich muss mich aber erst sammeln, mich auch mehr konzentrieren, irgendwie auch mehr Inder werden.
Hampi ist berühmt wegen seiner verwunschenen Naturlandschaft. Hier schlafen zudem auch viele verlassene Tempel. Eingebettet sind diese Schläfer zwischen gigantischen Granitfelsen, eingebettet auch zwischen vielen Reisfeldern und Palmenhainen. Den Kontrast zu den rostfarbigen Granitmurmeln bildet meist ein azurblauer Himmel.
Ein träger Fluss durchfließt die märchenhafte Landschaft. Hampi ist somit fast zwangsweise ein Ort für längere Zeit. Die Zeit ist dabei keine Verschwendung, denn auf unseren vielen Wanderungen zwischen den vielen Granitfelsen, staunen unsere Augen ohne Pause.
Es sind nicht nur die weit verstreut, eingebettet liegenden Hindu-Tempel, welche die Augen verzaubern. Wir erklimmen fast täglich einen der Aussichtspunkte. Dabei versuchen wir immer die Zeit der letzten Sonnenstrahlen zu erwischen, denn das Granit entfaltet zu dieser Stunde seine schönsten Farben. Zu unserem Lieblingsausguck kraxeln wir mindestens eine Stunde stetig nach oben.
Doch der steile Weg lohnt sich, denn von unserem Lieblingsplatz, es ist ein längst vergessenes Ruinentempel, können wir das Hampital überblicken. Wir sehen dabei all die Schleichwege im Tal, die Schleichwege durch die Reisfelder, die Schleichwege zum Fluss und die Schleichwege zwischen den verstreut liegenden Ortschaften. Und sehen auch die Sonne am Horizont versinken. Es sind Minuten der Ruhe, Entspannung und inneren Einkehr.
Viele Stunden verbringen wir auch an einem weiteren Platz. Wir mögen Hampi sehr. So fällt der Abschied sehr, sehr schwer.
Absolut interessant ist auf jeden Fall auch unser weiterer Weg, denn die Strassen, die Landschaften, die Menschen und somit die Eindrücke unterwegs wechseln sich täglich ab. Oft sind es auch nur wenigen Stunden oder gar Minuten zwischen diesen Abwechslungen.
Die Szenen dieses spannenden Film's versuche ich über die nächsten knapp 2000 Kilometer bis Varanasi in meinem Kopf krampfhaft abzuspeichern. Beim Speichern hilft mir die Kamera. Sie belebt zum Glück die Momentaufnahmen in sekundenschnelle. Sie holt zurück was fast vergessen. Der Kopf und die gespeicherten Bilder werden zu einer Einheit. Die Kopfgedanken und die Kamera ersetzen somit für mich das Tagebuch aus alten Zeiten. Was ihnen jedoch gemeinsam ist, sie gebären, wenn auch unterschiedlicher kaum möglich, weiterhin die kleinen Geschichten von unterwegs, die Geschichten am Wegesrand.
Zu einer dieser kleinen Geschichten gehört der indische Straßenverkehr. Und dabei natürlich meine Bemühungen, endlich ein richtiger Inder zu werden. Die Sadhus in Hampi hatten mir ja gesagt, ich muss wie ein Inder denken. Also gebe ich mir ordentlich Mühe. Und was soll ich nun schreiben? Ich kann nur schreiben, ja es gelingt mir. Die Regeln im indischen Straßenverkehr sind wahrlich nicht europäisch. Für mich, zumindest zu Beginn unserer Tour, die wirklich schlimmsten in der Welt. Dabei ist eigentlich alles ganz einfach!
Der Motorstärkere hat immer Vorfahrt. Blinker werden kaum eingesetzt. Ein winkendes Handzeichen ersetzt meist den Blinker. Hupt es, und dies ist nervend fast ständig, dann bedeutet dies, mach Platz! Dieses Gebot einzuhalten, ist überlebensnotwendig. Fahre nach Möglichkeit nie in der Nacht, denn dies sind Horrorfahrten. Respektiere die Tiere, wie Kühe, Ochsen, Schweine, Kamele, Hunde, Affen und weiteres Getier, als mindestens gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer. Rechne immer mit Schlaglöchern, offenen Gullideckeln, plötzlichem Wechsel von Asphalt zu Pisten und fast ständig unbefestigten Seitenstreifen. Gemeingefährlich sind die Hubbel (Tempohemmschwellen) zur Geschwindigkeits- Reduzierung in allen Städten und Dörfern quer über die Fahrbahn. Wenn du nicht kurz fliegen willst, so bremse vorher tüchtig ab. Bürgersteige sind auch in Städten meist purer Luxus. Rechne immer damit, dass ein Fußgänger, und davon gibt es nicht wenige, dir den Weg schneidet. Wundere dich nicht, wenn dir ein Fahrzeug oder auch eine Kuhherde auf der eigentlich falschen Straßenseite entgegenkommt. Es sind keine Geisterfahrer. Es sind ganz normale indische Verkehrsteilnehmer.
Wenn du diese Regeln, und noch ca. hundert weitere berücksichtigst, somit also faktisch ein indischer Allroundfahrer geworden bist, wird dir das Fahren sogar Spaß und Freude bereiten. Vergesse während dieser Freude aber nie, dass du nur ein Inder bist, nur ein Rädchen im indischen Verkehrschaos, nur ein Rädchen im Kampf um Zentimeter, im Kampf um Fortbewegung. Sei Stolz am Abend auf deine erfahrenen Kilometer, auch wenn es nur sehr wenige sind. Es gibt nämlich Tage, da sind 150 Kilometer Tagesleistung schon sehr gewaltig.
Diese wenigen Kilometer sind zum Glück auch den unzähligen Begegnungen am Wegesrand geschuldet. In der Langsamkeit liegt oft ein Segen. Dutzende Gründe gibt es, um irgendwo eine kurze oder auch längere Rast einzulegen.
Da sind die Sadhus mit ihrer heiligen Kuh.
Sie ziehen von Ort zu Ort, von Tempel zu Tempel und verdienen sich mit ihren Kunststücken den Lebensunterhalt. Für uns ist es eine Freude, denn das halbe Dorf schaut zu, gibt Applaus, lacht wenn ein Kunststück nicht auf Anhieb gelingt und grölt wenn alles perfekt erscheint. Der Höhepunkt ist die stehende Kuh auf den Oberschenkeln des Mannes. Eine halbe Stunde verbringen wir bei dem Spektakel. Wir sind begeistert. Zur Vorführung gehört auch die passende Musik des anderen Mannes. Er umkreist ständig die zwei Vorführenden, trifft absolut vorzüglich die Töne und untermauert damit wohlklingend die Dramatik der Vorführung. Seine aufgeblasenen Wangen scheinen zu platzen.
Zum Schluss macht der Klingelbeutel die Runde. Kunst will Leben. Kunst braucht Nahrung. Es trennt sich die Spree vom Weizen. Nur wenige geben eine Münze. Wir geben einen Schein. Kunst muss Leben!
Und da Kühe, besonders natürlich die wandernden Kühe, ab und zu neue Hufe brauchen, findet man auch in allen ländlich geprägten Ortschaften die Hufbeschläger.
Den Kühen ergeht es in Indien sehr gut. Die Hufbeschlagung ist zudem nicht täglich. Und als wir einen Bauern beobachten, wie dieser mit seiner Kuh durchs Wasser gleitet, überlegen wir erneut. Wären wir nun Hindu, glaubten dabei auch an die Wiedergeburt, als Kuh hat man in Indien nicht die schlechtesten Karten.
Die Strecke Richtung Norden ist oft von Armut geprägt. Zwei Tage tuckern wir dabei an Baumwollfeldern vorbei. Wir merken sofort, mit Baumwolle ist schlecht Geld zu verdienen, zumindest nicht für die Arbeiter/innen im Baumwollfeld. Die Häuser sind meist winzig klein und aus Lehm erbaut. Im Hof liegen aufgestapelt die Kuhfladen zum trocknen. Diese werden als Brennmaterial verwendet. Nur in den Städten wechselt die Armut etwas ihr Gesicht. Die Armut hat dort meist gemauerte Wände, ein oder mehrere Kühe ums Häuschen laufen, und mehrere aufgestapelte Kuhfladen-Türme im Hof stehen.
Die Backsteine für die armseligen Steinhäuser werden an den Ortsrändern in kleinsten Manufakturen hergestellt. Die Männer kneten die lehmigen Erdschichten in Holzformen.
Bei um die 30 Grad keine unbedingt beneidenswerte Arbeit, denn in diesen meist sumpfigen Gegenden vermiesen auch viele Moskitos den Arbeitseifer. Harte Arbeit, karger Lohn, erzählen mir die männlichen Arbeiter.
Es geht aber noch beschissener, denn nachdem die Steine durch die sonnige Wärme vorgetrocknet wurden, tragen Frauen diese hochgestapelt auf dem Kopf zum Brennplatz. Sie tun dies ohne Klage. Manche lächelt uns sogar an. Ich denke, noch härtere Arbeit, noch weniger Lohn.
Was würde Indien ohne seine Frauen machen? Frauen arbeiten auf dem Bau, bessern Straßen aus, bestellen die Felder, sammeln Stapel von Holz, formen die Kuhfladen, kümmern sich um die zahlreichen Kinder, und, und, und …
Ich frage mich dabei immer, warum müssen in Indien hauptsächlich die Frauen die körperlich schwersten Arbeiten verrichten? Hat da einer der vielen indischen Götter den Männern vielleicht ins Ohr geflüstert, lasst den Frauen all die schwere Arbeit tun, denn ihr Männer seid dafür ja einfach zu schwach. Oder sind vielleicht all diese Götter nur männliche Götter? Und keiner mag der Nestbeschmutzer sein? Oder, oder, oder …?
Egal wo wir auch Rast machen, einkaufen, den Menschen bei der Arbeit zuschauen, übernachten, oder nur für wenige Minuten etwas Ruhe suchen auf unserem langen Weg nach Varanasi, wir sind da nie lange alleine. Entlang der Strecke gibt es sonst keine Ausländer zu bestaunen oder zu befragen. Die Strecke hat nicht den Wohlstands von Kerala oder gar Goa. Es ist nicht das indische Schloss Neuschwanstein. Und doch sind wir begeistert, denn die meist sehr armen Menschen sind sehr freundlich, unterhaltsam, wissbegierig und zu manchem Späßchen aufgelegt.
So verrinnt die Zeit mit vielen neuen Eindrücken, auch mit neuen Fragen und vielen spannenden Erkenntnissen. Erst in Varanasi kann ich mich lösen von den vielen Fragen, den Eindrücken und Erkenntnissen. Dieses Loslassen ist auch bitter nötig, denn die heilige Stadt am Ganges verlangt nach einem klaren Kopf, nach klaren Gedanken.
Sie gilt als die chaotischste Stadt von ganz Indien. Sie strapaziert die Eigenarten des Gefühlsleben. Leib und Seele ringen um Verständlichkeit, um Erklärungen, und wandert dabei zwischen Mitleid, Liebe, Komik, Ironie, Ärger und Freude.
In Varanasi (eine der 7 heiligen Städte der Hindus) schlägt des Herz der Hindus. Sünden versucht man im Ganges abzuwaschen. Die Befreiung aus dem Todes- und Wiedergeburt- Kreislauf wird hier durch Verbrennungen der Verwandten am heiligen Wasser in aller Einfachheit zelebriert. Etwas für uns eigentlich sehr persönliches, somit sehr intimes, ist hier in aller Offenheit, auch in aller Öffentlichkeit, über 24 Stunden täglich ersichtlich.
Zum klaren Kopf gehört für mich auch immer eine Runderneuerung zur Ansicht meines Kopfes selbst. Also besuche ich zuerst in Varanasi den Strassenfriseur. Die langen Haare werden fachmännisch gestutzt, die schon juckenden Barthaare abrasiert und so nebenbei massiert er mir den Kopf, den Nacken und die Schultern. Zum krönenden Abschluss reinigt er mir noch die fast verschlossenen Gehörgänge.
Jetzt fehlt nur noch eine heiße Dusche, ein weißes Bettlaken, ein Zimmer mit Aussicht auf den heiligen Fluss und der Mut, um sich auf all die Möglichkeiten, welche Varanasi bietet, ohne Vorurteile einzulassen.
Es soll durchaus schon hartgesottene Traveller gegeben haben, welche nach nur wenigen Stunden Varanasi fluchtartig verlassen haben.
Rückblick Radeltour:
Damals, während unserer Weltradeltour, sind wir recht abgekämpft in Varanasi eingeradelt. Ich kann mich noch erinnern was Gi mir flüsterte, als ich von einem Spaziergang ins Zimmer zurückkam. Gi sagte an diesem Abend zu mir: Ich glaube, ich habe den Ekelwahn.
Natürlich fragte ich, warum?
Als du in deiner Leichenstadt unterwegs warst, habe ich mit einem Hoteljungen eine Ratte in unserem Zimmer gefangen. Die Kakerlaken im Bad haben wir – so gut es eben ging – tot gesprüht oder halt erschlagen. Von der Chemiekeule hat das Hotel in drei Jahren immer noch was. Als ich mir dann frische Luft am Fenster reinziehen wollte und nach unten schaute, du wirst es nicht glauben, saßen da wirklich drei kackende Inder! Dein Leichenhausen treibt mich zum Wahnsinn!
Wow, die Erinnerung ist natürlich heftig.
Zur Erklärung: Es war gerade die Phase, als Gi mit ihrem Darmproblem zu kämpfen hatte. Genau geschrieben, es war ihre hochgradige Indien- Hass- Phase, als sie nämlich damals erkannte, dass sie statt der Tabletten gegen heftigen Durchfall, die Tabletten für heftigen Durchfall geschluckt hatte. Es war also die Gi- Indien- Hass- Phase hoch drei, welche für eine Stadt wie Varanasi natürlich sehr kontraproduktiv sein kann, um es diplomatisch auszudrücken.
Sie war während unserer 3 Tage in der Stadt nur einmal an den Ghats dabei. Eine der Tablettennebenwirkungen war wahrscheinlich daran Schuld, dass sie bei genau diesem Besuch an einem der Verbrennungsghats sehr, sehr intensiv den Verbrennungsgeruch erschnüffeln konnte, behauptete sie jedenfalls. Sie hatte somit sehr schnell die Nase randvoll. Varanasi wurde für sie zu „Leichenhausen“ und letztendlich verließen wir Leichenhausen schon nach 3 Tagen.
Ich selbst hatte mich irgendwie mit Varanasi angefreundet, denn ich fand die Stadt zumindest außerordentlich interessant.
Damit meine damals gefühlte Freundschaft, diesmal auch so für Gi eintreffen möge, machte ich mir dazu vorher schon Gedanken. Wichtig erschien mir dabei, unser damaliges Zimmer für 3,80 Euro pro Nacht, gegen ein höherwertiges einzutauschen, denn ein passables Zimmer ist immer schon die halbe Miete. Da unsere Fahrt, von Hampi bis Varanasi, zudem sehr angenehm und ohne jegliche Darmproblematik verlief, also mit vielen schön angereicherten Tagen, rechnete ich dies elegant zur anderen Hälfte der Miete. Wird meine einfache Rechnung aufgehen?
Diesmal zuckeln wir recht beglückt nach meinem Friseurbesuch durch die engen Gassen von Leichenhausen. Hinter jeder Gassenecke gibt es eine neue Überraschung. Manchmal steigt Gi ab, um zu Fuß den Weg zu erfragen, um mich zu lotsen, um mich einzuweisen oder um gar sperrige Dinge in den Gassen wegzuräumen. Wir suchen nämlich im unglaublichen Gassengewirr eine ganz bestimmte Unterkunft. Diese zu finden ist nicht einfach. Doch Gi, anders als bei unserem damaligen Fahrradbesuch, ist echt gut gelaunt. Sie gibt nicht auf. Es ist ihr egal, dass wir eine gute Stunde brauchen, um das erhoffte Glückshotel zu finden. Ich hatte es vorher über eine Internet- Hotelsuchmaschine auserkoren.
Okay, die Hürde des fünffachen Preises, gegenüber dem Rattenzimmer von damals, musste ich dabei erst mutig überspringen, doch wenn ich der ausführlich märchenhaften Beschreibung des Hotels glauben darf, erwartet uns ein Traum von Zimmer, ein Traum von Hotel.
Und, wir finden es. Und, es wird tatsächlich ein indischer Hoteltraum für uns!
Hier passt einfach alles, stellen wir schon nach nur wenigen Minuten fest. Unser Zimmer ist ein Wohlfühlzimmer. So etwas sauberes haben wir in Indien noch nie erlebt. Neben sauber, geizt das Hotel auch nicht mit dekorativer Verspieltheit. Das Fenster eröffnet einen grandiosen Blick runter zum Ganges, runter zu einem der ca. 80 Ghats. Für drei Nächte habe ich vorgebucht. Letztendlich bleiben wir sieben. Die Zahl 7 gibt zu erkennen, dass Varanasi selbst diesmal auch für Gi, eine etwas länger machbare Option sein wird.
Was macht nun aber dieses Varanasi so spannend, so verrückt, so bunt, so unerträglich, so faszinierend, so abstoßend, so romantisch oder gar so schockierend ?
Der interessanteste Stadtteil, nämlich die Altstadt von Varanasi, verteilt sich einige Kilometer entlang am Westufer des heiligen Ganges. Da befinden sich auch die berühmt- berüchtigten Ghats. Jedes Ghat hat einen Namen. Zum Ghat gehört immer ein Tempel, welcher für die so wichtigen Religionshandlungen erbaut wurde.
An diesen Treppenabgängen verrichten die Hindus ihre Kulthandlungen, ihre Waschungen und an einigen dieser Ghats wird auch die Verbrennungszeremonie ihrer Toten sehr öffentlich abgehalten. Die Hindus werden religionsbedingt verbrannt. Und wer es sich leisten kann, bringt den Verstorbenen oder seine Asche nach Varanasi.
Im Labyrinth der Gassen und am Ganges selbst, kann man sich der Flut der bizarren Gerüche, der Buntheit des indischen Lebens und den Hindu- Ritualen des Totenkultes sehr intensiv ausliefern.
Bei all unseren Spaziergängen in den Gassen oder entlang der vielen Ghats, erschlagen mich erneut fast die Eindrücke. Viel Zeit brauche ich, um die magischen, skurrilen und surrealen Momente zu verarbeiten. Besonders an den Verbrennungsghats zerrt das Nervenkostüm wie ein aufgeblasenes Segel bei Windstärke 10. Um dem Segel etwas Wind zu nehmen, um bestimmte Dinge richtig einordnen zu können oder um auch nur annähernd zu verstehen, sitzen wir oft lange Zeit einfach nur herum, denn lange Zeit nur zu beobachten, enträtselt so manche Eigenheit. Dabei hilft mir auch sehr, mich wie in anderen Ländern oftmals auch, einfach zu hinterfragen, was wäre aus mir geworden, wäre ich denn hier geboren worden? Doch diesmal frage ich mich gleichzeitig, welcher Job wäre für mich bei all dieser reichen Jobauswahl der angenehmste?
Egal wo man in Indien unterwegs ist, Sadhus trifft man fast immer. Und in Varanasi trifft man sie ständig, denn hier ist mit all den Touristen recht gut Knete zu machen. Vorausgesetzt natürlich, man scheut nicht den Kontakt zu den ausländischen und auch vielen indischen Reisenden. Nur wenige Sadhus in Varanasi sind nur auf der Durchreise, auf dem langen Pilgerweg ihres Lebens. Die meisten gehören zum Varanasi-Inventar. Ein Touristen-Sadhu möchte ich selbst nicht sein, auch wenn die Mahlzeiten gesichert erscheinen, denn ständig die gleichen Sprüche klopfen, wäre mir auf Dauer zu langweilig, zu eintönig und somit sicherlich auch zu anstrengend. Als Sadhu auf ständiger Wanderschaft, könnte ich mich da schon eher vorstellen.
Das Wasser berühren oder gar täglich eintauchen bedeutet nämlich, mit all dem Schmutz in Berührung zu kommen, was der Ganges halt so an schmutzigen Überfluss bietet. Nicht sehr weit vom Taucher befindet sich eine der vielen Freiluft-Wäschereien.
Hier wird in Kesseln die Wäsche sehr umweltschädlich vorgekocht. Alte Autoreifen und Abfälle der Schuhindustrie werden verschürt. Zum Schluss gelangt die Brühe in den Ganges.
Die Wäscherinnen klopfen die Wäsche auf Steinen bis sie sauber erscheint. Arbeit bei den Wäschern, wäre auch nicht so mein Ding.
An manchen Abenden schippern wir in einem Boot über den Ganges. Da ist der Sonnenuntergang immer so romantisch. Die brennenden Blumenschälchen der Pilger ziehen dabei wie Lichterketten an den Booten vorbei. Es ist die Zeit der mystischen Varanasi-Stimmungen. Natürlich paddelt unser Bootsführer auch immer an den Ghats mit den Verbrennungen vorbei. Am Abend sind die Feuer weit sichtbar. Da frage ich mich, könnte ich vielleicht an diesen Feuerghats arbeiten?
Es wäre ein Leben mit dem Tod. Die Einäscherung von den Toten, wäre mein Geschäft. Da täglich zwischen 100 bis 400 Verbrennungen an den Ghats stattfinden, wäre es eine absolut krisensichere Arbeit. Und aus der Krisensicherheit ist leicht zu erraten, irgendwann würde ich selbst da liegen. Liegen auf einer Bambustrage, eingehüllt in Tücher. Die Verwandten oder starke Jungs, würden mich auf der Trage die Stufen runter tragen, kurz im heiligen Ganges untertauchen, zurück schleppen, um auf einem Stapel Feuerholz verbrannt zu werden. Meine Asche würde letztendlich im Ganges verschwinden, sich vermischen mit allem was der Ganges in seinem Wasserbauch mit sich führt. Dies könnte mir aber egal sein, denn die schnelle Befreiung aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt erlangt man an diesem heiligen Ort ja sehr schnell.
Als Kind, angelockt durch ältere Freunde, hatte ich meinen ersten Toten im damaligen Leichenschauhaus des Sonneberger Krankenhauses erzittern dürfen. Ich will sofort gestehen, es war der ultimative Horror für mich, denn Alpträume begleiteten mich danach längere Zeit. In Varanasi spukt mir die neugierige Alptraum-Jugendsünde erneut im Kopf herum. Die Arbeit mit dem Tod, könnte nicht mein Geschäft sein.
Und doch muss die Arbeit getan werden, weltweit getan werden. Ich habe sehr viel Achtung vor all diesen Menschen. Weltweit geschieht dies sehr unterschiedlich. So öffentlich wie in Varanasi, geschieht es jedoch nur sehr selten. Was mir dabei noch durch den Kopf geht?
Was überall, bei dem Kreislauf von der Geburt bis zum Tod, weltweit gleich ist, ist die Tatsache, dass jeder mit leeren Händen kommt und jeder mit leeren Händen geht. Egal was er sich an Reichtum angehäuft hat. Die Hände werden leer sein!
Da ich den unterschiedlichen Geruch von Holz sehr mag, könnte ich mir zumindest vorstellen, in einem der vielen Holzlager neben den Ghats zu arbeiten.
Ich mag die Maserung, die unterschiedlichsten Farbtöne und auch die Spalt-oder Sägegeräusche bei der Holzverarbeitung. Und harte Arbeit ist mir zudem nicht fremd. Doch auch harte Arbeit findet ihre körperlichen Altersgrenzen.
Nach vielen weiteren Vorstellungen zu möglichen Jobs in Varanasi, fällt mir das für mich eigentlich sehr nahe erst sehr spät ein. Es war so nah, dass es mir vielleicht deshalb erst am letzten Abend bewusst wird. Würde ich nämlich zur Kaste der Bootsführer gehören, dann wäre ich sicherlich zufrieden, denn mit dem Gangeswasser käme ich kaum in Berührung, der Tod hätte immer einen erfreulichen Abstand und täglich würden in meinem Paddelboot andere Menschen sitzen. Und da ich ja dann auch hier geboren sein würde, würde ich all die intimen Geschichten, Begebenheiten und Geheimnisse von Varanasi, und somit auch vom Leben mit dem Tod wissen. Und es würde mir sehr viel Freude bereiten, all diese Geschichten meinen Bootsgästen zu erzählen, mein Varanasi zu rühmen. Zwischen jedem Satz, würde ich das Paddel durchs Wasser ziehen, dabei genüsslich meine staunenden Gäste betrachten, und wieder am Ufer angekommen, mich über ein saftiges Trinkgeld erfreuen. Ich bin mir ziemlich sicher, diese Arbeit würde mir gefallen.
Letztendlich tröste ich mich aber mit dem Gedanken, dass ich sicherlich irgendeinen Job hier machen würde. Und da für mich jede Arbeit auch etwas mit Anerkennung, Respekt, Achtung und Würde zu tun hat, würde ich mir dabei nur wünschen, man möge mich, egal welche Arbeit ich verrichten würde, auch respektvoll behandeln.
Mit vielen neuen Eindrücken verlassen wir Varanasi. Gi hat ihren Frieden mit ihrer ,,Leichenstadt'' geschlossen. Dies freut mich natürlich besonders. Sie war oft der treibende Keil für unsere Wanderungen durch die engen Gassen, für unsere Wanderungen entlang des heiligen Ganges.
Noch ganz in Gedanken mit Varanasi verbunden, tuckern wir in Khajuraho ein. Khajuraho ist bekannt für seine kunstvollen Reliefs an unterschiedlichen Tempelgruppen. Diese gehören zum Weltkulturerbe.
Bei Weltkulturerbe erwartet man natürlich etwas ganz besonderes. Doch ich muss sogleich gestehen, die Landschaft und auch die Ortschaft selbst, in welcher die Tempel erbaut wurden, können mit Weltkulturerbe nicht gemeint sein, denn die Landschaftsform wirkt sehr öd auf mich, und die verstaubte Ortschaft selbst ist bewohnt von etlichen, wirklich nervenden Einwohnern. Hier wird Indien leider seinem Nepper- Schlepper - Bauernfängerruf voll gerecht, denn ständig werden wir angehauen. Das alle irgendwie Geld verdienen wollen, ein Geschäft wittern, kann ich verstehen, doch das wir selbst keine tuckernde Sparkasse sind, müssten die Yogis, die Masseure, die Taxifahrer, die Pensionsvermieter, die Restaurantbetreiber, die bettelnden Kinder und Erwachsenen, spätestens nach wenigen Stunden begriffen haben, denn wenn ich mir schon ihre Gesichter merken kann, werden wohl auch sie uns, bei jeder erneuten Anmache, erkannt haben. Es nervt einfach, und dies fast minütlich.
Wir haben selbst Schuld, könnte ich nun schreiben, denn Orte die wie ein Touristenmagnet vermarktet werden, haben leider sehr oft diese negativen Nebenwirkungen. Hier kommt allerdings noch hinzu, dass die Vermarktung gezielt auch den erotischen Faktor ins Spiel bringt. Und Erotik verkauft sich weltweit gut.
Als ich ein kleiner Bub war, so um die 6 Jahre, schickte mich meine Mutter zum Kunstturnen. Ich bin ihr heute dafür noch dankbar, denn einen Handstand oder einen Flickflack bekomme ich immer noch irgendwie hin. Okay, natürlich nicht mehr mit der Bestnote 10.
Was ich am Turnen so geliebt habe, war die sehr breitgefächerte Beanspruchung aller Körperpartien. Jede Muskelgruppe wird dabei ausgebildet. Was ich damals allerdings nicht wusste, dass ich um die 54 Jahre später, an Tempeln im fernen Indien, so manche Abbildung als reine Kunstturn-Akrobatik bestaunen werde, in dieser gemeißelten Liebesakrobatik viele Grundelemente des Turnen erkenne würde und als Liebes- Turnkampfrichter ebenfalls geneigt sein würde, so manche Bestnote 10 zu verteilen.
Um die 1000 Jahre sind all die wirklich kunstvollen Steinmetzarbeiten alt. Natürlich wurden nicht nur Liebesszenen in Stein gehauen. Die Abbildungen erzählen vom damaligen Leben. Es geht dabei um Götter, Göttinnen, Tiere, Krieger, Handwerker und die sehr vielen grazilen Nymphen, an den immerhin noch 25 erhaltenen Tempeln. Es sollen um die 80 Tempel die öde Landschaft damals beglückt haben.
Was muss vor 1000 Jahren hier los gewesen sein, frage ich mich ständig, denn um all diese Tempel der Nachwelt zu hinterlassen, müssen zehntausende Menschen hier gelebt haben. Meine Gedankenwelt lässt den Ort neu auferstehen.
Ich sehe den Künstlern bei der Arbeit zu. Die verstaubten Gassen sind gefüllt mit kleinen Basaren. Die Gewürze entfachen ein Feuerwerk der Gerüche. Aus den Tempeln lausche ich den Gesängen und Gebeten. Am Abend führen die Mahut ihre Elefanten zur Wasserstelle. Es wird gekocht. Es riecht verführerisch. Rinder ziehen durch die Gassen. Am Dorfteich waschen die Frauen ihre Saris. Bunt gekleidete Menschen beleben die Stadt, beleben die Gassen, beleben die Trampelpfade zu den Tempeln.
Heute sausen Mopeds durch die staubigen Gassen. Die Fahrer sind dabei immer auf der Suche nach Touristen.
Warum kann ich die Zeit nicht zurückdrehen? Könnte ich es, dann würde ich all meine Fragen los. Wie viele Menschen haben wirklich hier gelebt? Wie viele davon waren Künstler? Gab es nur männliche Künstler? Warum wurden gerade hier die Tempel erbaut? Warum gibt es die vielen erotischen Abbildungen? Ist den Künstlern die Fantasie durchgegangen? Hatten sie freie Hand oder wurde im Auftrag gearbeitet? Und auch die Frage, wer hat die Nymphe im nassen Sari so kunstvoll erschaffen, werde ich leider nie erfahren. Genau diese Nymphe ist für mich Kunst mit Hammer und Meißel in Vollendung.
Das Städte auch ohne Weltkulturerbe-Ernennung, einen Besuch lohnen, erleben wir in Gwalior. Die Stadt hat überraschend viele schöne Eigenheiten. Da stört mich auch nicht, dass ich beim eintuckern den Helm aufsetzen muss, denn die Soldaten erklären mir, ihre Stadt ist nicht nur sauber, sie soll auch verkehrssicher sein. Sauber stimmt, zumindest fast, und man staune, noch nie in Indien haben wir solch einen fast sicheren Verkehrsablauf erlebt. Über all die positiven Entwicklungen wacht symbolisch eine mächtige Festung auf majestätischem Hügel.
Dieser Hügel ist nicht an Fläche klein. Wir unternehmen eine Tageswanderung um all die Hügelschönheiten zu erkunden. Die Festung selbst ist wirkt majestätisch. Und da alles irgendwie somit sehr königlich erscheint, wundern wir uns dann auch nicht über die Zugabe des Palastes mit viel Fries. Man staune dabei erneut, denn der Fries besteht hauptsächlich aus gelben Enten, aus Mosaiken mit Elefanten, Krokodilen und Tigern. Auch diese sind in Gelb, Blau und Grün gehalten. Wir empfinden diese frühe Hindu-Architektur farblich als sehr entspannend.
Doch der eigentliche Hammer, zumindest für uns, sind die 30 Felsskulpturen an unterschiedlichen Abhängen des Hügels. Bis 17 Meter sind da einige an Höhe aus dem Fels herausgemeißelt. Um die 500 Jahre sind sie alt. Sie wurden in früher Zeit leider zerstört, doch zum Glück erneut aufgebaut. Dieser Umstand erlaubt uns, all diese Figuren zu bestaunen.
Wir brauchen ordentlich Zeit um all die Figuren in unserem Inneren aufzunehmen, denn jede Figur hat ihre besondere Schönheit. Meine gemeißelte Lieblingsfigur wird die Figur mit den einladenden Händen. Es gibt keine Begrenzung, auch keinen schriftlichen Verbotshinweis, um meinem Liebling sehr nahe zu kommen. Ich zögere, doch ein Inder erklärt mir, ich darf, denn es ist keine buddhistische Heiligkeit.
Ich fühle die glatten Hände. Ich fühle sehr viel Wärme. Ich fühle friedliche Ruhe in mir. Für Momente vergesse ich wo ich mich befinde. Zusammen mit meiner Figur bin ich unterwegs, unterwegs in Raum und Zeit.
In Agra holt uns ein Teil der indische Wirklichkeit wieder ein. Dies bedeutet, Massentourismus umgibt uns. Geschuldet ist dies einzig dem Taj Mahal. Reichtum und Elend geben sich aber nicht die Hand, wie zu erwarten wäre. Sie werden nicht eins, um gemeinsam Raum und Zeit genießen zu können.
Ja, das Taj Mahal ist göttlich. Es ruht eingezäunt auf großer sauberer Fläche, Springbrunnen kämpfen gegen den Feinstaub an, die Besucher lächeln, sind irgendwie aufgekratzt und doch alle in staunender, demütiger und somit feierlicher Stimmung. Zehntausende Augenpaare versuchen täglich die Schönheit zu verstehen, zu begreifen und manche Köpfe werden dabei auch hinterfragen. Warum musste ein ganzer Staat für dieses göttliche Grabmal fast ausbluten? Darf ein einzelner Mensch, seiner geliebten Frau, solch ein Grabmal errichten lassen, und dabei das Volk in bittere Armut drängen?
Am Abend, wie an drei Abenden zuvor, stehen wir am Rande eines Friedhofs, um die Stimmung des Taj bei Sonnenuntergang in der Kamera zu verewigen. Es gelingt nicht wirklich gut, denn der Smog hat die Stadt an jedem Abend fest im Griff.
Vor Jahren war dies noch anders. Meine damaligen Fotos hatten Ausstellungsniveau. Die Zeit ist aber vorbei, leuchtet mir schnell ein. Ganz Agra hat sich gewandelt. Es gibt natürlich noch immer das Taj, doch die Stadt selbst vergammelt, verarmt leider auch immer mehr. Der Stadt fehlt die Luft zum atmen. Die Stadt hängt am Tropf.
Täglich laufen wir dorthin, wo der Atem spürbar fehlt, wo es keinen Tropf gibt, wo somit auch keine Touristen zu sehen sind. Keine Ahnung, doch ich schätze ca. 50 Prozent der Bewohner leben in Agra in den sogenannten Elendsvierteln. Ich frage vorher, wenn ich Bilder von ihrem Elend aufnehmen möchte.
Sie haben nichts dagegen. Die Menschen sind freundlich. Sie haben ihre Würde nicht ganz verloren. Dies wundert uns. Würde/n ich/wir das aushalten? Was geschieht mit den vielen Millionen Eintrittsgeldern vom göttlichen Taj? Bleibt das Geld in der Stadt? Ist nicht wenigstens Geld da um den Wasserkanal an einem der unzähligen Armenviertel zu säubern? Baut sich Indien erneut ein Grabmal?
Auch in der Altstadt sind wir unterwegs. Dies hat einen besonderen Grund. Während unserer Weltradeltour habe ich dort einen besonderen Mann kennen gelernt. Lange habe ich damals seiner Arbeit zugeschaut. Dabei wurde mir bewusst, der macht die sehr gut, denn über Kunden konnte er sich nicht beschweren. Er hatte mir damals erklärt, seine Bohrmaschine hat einen Akku. Ganze Gebisse kann er auf Bestellung fertigen. Und einen Zahn ziehen, ist natürlich seine leichteste Übung.
Auf meine Frage bezüglich Hygiene antwortete er, er habe natürlich ein Mittel zum desinfizieren. Ohne ginge es auch nicht, denn dann hätte ich ja keine Kunden mehr. Gelächelt hat er damals bei der Antwort. Mir fiel auch auf, er hatte Goldringe an den Fingern. Nur wer gute Arbeit macht, kann sich Goldringe leisten, dachte ich.
An seinem Arbeitsplatz, bei dem ich ihm in den längst vergangenen Jahren schon öfters bei der Arbeit zugeschaut hatte, treffen wir ihn auch diesmal an.
Als er mich erkennt lächelt er wie immer. Nur Älter ist er geworden, denke ich. Nur Älter ist er geworden, wird er selbst auch von mir denken. Egal, zwei alte Bekannte freuen sich. Dies ist wichtig!
Damals wäre mir nie in den Kopf gekommen selbst seine Dienste zu erbitten. Ich hatte ja keinen Grund. Meine Zähne erfreuten sich bester Gesundheit. Nur damals überlegte ich schon, könnte ich mich da hinsetzen?
Diesmal ist es anders. Diesmal muss, will ich es wissen. Meine Plombe, welche mir ein Zahnarzt vor knapp einem Jahr im Jemen einsetzte, hat sich vor zwei Tagen gelockert und ist mir am heutigen Morgen ausgefallen. Ich zeige ihm die Plombe, und frage, kannst du mir helfen? Er lächelt wie immer.
Er schaut ins kleine Loch, da wo vorher noch die Plombe war. Er versucht mir zu erklären, das Loch ist sauber. Dies soll sicherlich bedeuten, es ist keine Karies vorhanden. Es muss nicht gebohrt werden!
Nur kurze Zeit später ist die Plombe eingesetzt. Mein Geschmack im Mund ist säuerlich. Er steckt mir noch ein Hölzchen zwischen die Zähne und sagt, ich soll nur noch 10 Minuten richtig darauf beißen.
War ich nun mutig? Ja und nein, denke ich, denn schon immer brauche ich viel Mut um einen Zahnarzt zu besuchen, egal wo auf der Welt. Hier wusste ich aber, es ist ja nur die Plombe. Mein Freund kann nicht viel falsch machen. Seine Akkubohrmaschine kommt ja auch nicht zum Einsatz. Das bisschen notwendiger Rest-Mut wurde zudem letztendlich vom Drang beschleunigt um selbst zu erfahren, was Millionen von Indern als ganz normal betrachten, denn Strassenzahnärzte gibt es ja in jeder Stadt. Und sehr wichtig erscheint mir, um mutig zu sein, gehört auch immer Vertrauen dazu. Und dieses Vertrauen war zu hundert Prozent vorhanden.
Jedenfalls bilde ich mir ein, weit mehr Mut müsste ich aufwenden, würde ich für Tage, Nächte oder gar mehrere Wochen, in einem der Elendsviertel mein Leben verbringen.
Neu verplombt, frage ich oft nach dem Weg Richtung Norden. Rishikesh ist zwar eine berühmte Stadt am Ganges, doch an Hinweisschildern mangelt es.
Dafür tuckern wir sehr oft am Ganges entlang. Wir treffen auf viele indische Pilger. Sie kommen von der Gangesquelle. Es ist die Zeit der Pilgerrückkehrer, denn an der Quelle selbst hat bereits der Winter Einzug gehalten. Am Ganges entlang, besuchen die Pilger die heiligen Stätten der Hindus.
In Rishikesh durchbricht der Ganges die letzten Gebirgshindernisse. Im Jahre 1968 besuchten die Beatles Rishikesh. Einige Wochen lebten sie in einem Ashram. Seit dieser Zeit ist Rishikesh ein überaus bekannter Ort und jährlich strömen Traveller aus aller Welt sinflutartig ein. Dies hat Vor- und Nachteile mit sich gebracht.
Der Vorteil? Die Traveller- Infrastruktur ist hervorragend. Es gibt unzählige Unterkünfte, gutes Essen und eine Vielzahl von Freizeitvergnügungen. Trotzdem fühlen wir uns selbst nicht so recht wohl in Beatleshausen.
Für uns überwiegen die Nachteile. Die ständige Verkaufsanmache geht uns auf die Nerven. Joga, Ayurveda, Massagen, Deutsche Bäcker, Raftingtouren, Ashrams, Ohrensäuberer, Klamottenverkäufer, Taxifahrer, Geldtauscher und Drogenhändler lassen keinen Versuch aus, ihre Angebote an den Mann und die Frau zu bringen.
Das einzige Werbungsschild, welches mich so richtig nachdenklich werden lässt, ist die Werbung für die: World Peace Yoga School. Hier würde ich nämlich alle Kriegstreiber dieser Welt zu Dauerseminaren ver-pflichten.
Rishikesh liegt nur auf ca. 400 Höhenmetern, doch durchs Flusstal weht ein eisiger Wind aus Norden. Der Winter hat den Himalaya bereits im Griff. Es ist Anfang Dezember. Da wird uns schnell bewusst, wenn wir etwas vom Himalaya ertuckern wollen, müssen wir uns sputen, denn täglich rückt die Schneegrenze weiter gen Süden. Manali, gelegen auf über 2000 Höhenmetern, steht auf unserer Wunschliste. Nach nur zwei Tagen verlassen wir Rishikesh.
Bis Manali ist es kein leichter Weg, denn es wird täglich spürbar kälter und die Straßen ähneln zeitweise einer Panzerübungsstrecke. Auch geht es oft um die 1000 Meter rauf, dann um die 800 Meter runter und irgendwie will die Achterbahn kein Ende nehmen. Das größte Problem ist aber die Kälte, denn wir haben keine Winterausrüstung. Wir treffen auch keine weiteren Motorradfahrer in den Bergen. Die Saison ist schon einige Wochen beendet. Die Strasse rauf nach Manali und dann noch weiter rauf nach Leh, soll eine der schönsten Motorradstrecken weltweit sein.
In der Regel sind es organisierte Gruppentouren, welche in den wärmeren Monaten hier unterwegs sind. Da ist dann auch immer ein erfahrener Reiseführer, und noch wichtiger, ein Mechaniker für die Enfields dabei. Trotz Begleitmannschaft geben immer wieder einzelne Biker auf. Zu anstrengend, Erdrutsche, Dauerregen, Serpentinen der unvorstellbaren Art, Pässe auf über 4000 Meter Höhe, Schlagloch an Schlagloch und Durchschnittsgeschwindigkeiten von unter 20 Stundenkilometern zerren da gewaltig an den Nerven. Warum tun wir uns dies dann an? Noch dazu in einem absolut reiseunvernünftigen Monat?
Unsere Söhne haben unser Reise-Gen geerbt. Und unser großer Sohn war hier mit 2 Freunden vor einigen Jahren auch mit Enfields unterwegs. Und da wir nun hier in der Gegend sind, ist somit einfach der Drang vorhanden es selbst zu tun.
Und wir haben Glück, denn nach 3 Tagen kommen wir wirklich in Manali an. Es liegt auf 2050 Höhenmetern.
Es wurde auch Zeit, denn wir brauchen unbedingt eine längere Aufwärmphase. Fast wären wir auf unserer Kampfmaschine angefroren. Im kleinen Ort Manali ist nicht viel los. Die Saison ist beendet. Nur wenige Unterkünfte haben noch geöffnet. Die Völker im Himalayagebiet kennen keine Heizung europäischer Prägung. Zum Glück gibt es aber in unserer Unterkunft, für Weicheier vermute ich, zumindest eine, wenn auch etwas defekte Elektroheizung. Sie heizt unser Quartier auf fast gemütliche 15 Grad.
Am nächsten Tag starten wir den Versuch, weiter Richtung Norden zu tuckern. Dies tun wir ohne Gepäck, denn mir war vorher schon bewusst, nach nur 10, 15 oder auch 30 Kilometern wird Schluss sein mit tuckern durch die Kälte. So ist es dann auch. Nach ca. 20 km versperrt uns ein Schild die Weiterfahrt. Ein Polizist erklärt uns, nur 5 Kilometern weiter oben liegt Schnee. Die Straße rauf nach Leh ist bis zum nächsten Frühjahr gesperrt.
Am Abend erzählt uns unser Vermieter, in spätestens zwei Tagen soll in Manali Schnee fallen. Dies interpretiere ich so, ihr werdet dann Schwierigkeiten mit eurer Kampfmaschine bekommen. Ich rechne ihm die Schneevorhersage sehr hoch an, denn er könnte ja weiterhin Geld mit uns verdienen. Also verlassen wir den Ort bereits am nächsten Morgen. Es scheint zwar die Sonne, doch es ist richtig kalt. Am Morgen gab es Raureif in Manali.
Da Gi immer für positive Überraschungen gut ist, zaubert sie einige Plastikmülltüten und Zeitungen aus ihren Taschen. Nach dem Zwiebelprinzip zieht sie mich an. Zwischen meine Klamotten stopft sie die Plastiktüten und Zeitungen. Auch wickelt sie mir die Füße mit Tüten ein. Ich habe ja nur Sandalen an. Zum Schluss hängt sie mir wirklich noch ihre Lieblingsdecke um. Ich muss einfach ihr bester Freund sein. Ich freue mich nicht nur wie ein Teddybär, ich fühle mich auch wie ein aufgepumpter Teddybär. Und bin unheimlich dankbar, denn der Tüten - und Zeitungstrick hält wirklich viel Kälte ab.
Auf dem Weg über die Berge nach Dharamsala wird es am 2. Tuckertag endlich wärmer. Für die meisten Menschen ist Daressalam eng mit dem Namen Dalai Lama verbunden. Dies stimmt aber so nicht exakt, denn der eigentliche Regierungssitz des Dalai Lama ist einige Meter über Daressalam auf 1770 Höhenmeter in Mcleod Ganj angesiedelt.
Wir, besser geschrieben, Kampfmaschine erkämpft diese restlichen Höhenmeter mit Bravour. Und es lohnt sich, denn Mcleod Ganj wird für uns einer der schönsten Orte von Indien. Klein Tibet strahlt absolute Ruhe aus, die Luft ist angenehm sauber, die Berge im Hintergrund sind mit Schneehäubchen bedeckt und Wanderwege umsäumen den romantischen Bergrücken auf welchem Klein Tibet liegt. Die gewinnende Ausstrahlung des Dalai Lama scheint den ganzen Ort vereinnahmt zu haben.
In einer der vielen Gassen finden wir eine nette Unterkunft mit herrlicher Aussicht auf den Sitz des Dalai Lama. Natürlich besuchen wir den Sitz des weltbekannten Dalai Lama. Es macht Freude den Mönchen, Pilgern und Touristen zuzuschauen, denn Klein- Lhasa ist trotz vieler Menschen ein Ort der Ruhe.
Das wir den Dalai Lama selbst sehen werden, haben wir uns schon vorher abgeschminkt. Nur in einem ganz bestimmten Monat besteht dazu die Möglichkeit. Und eine vorherige Anmeldung ist nötig. Wir können es verstehen, denn er ist ja viel unterwegs. Und dazu passt einer seiner Sprüche wie bestellt:
,,Es gibt nur zwei Tage im Jahr, an denen man nichts zu tun hat. Der eine ist Gestern, der andere Morgen.''
Wir selbst unternehmen einige Wanderungen. Besonders schön ist die Wanderung rund um die Residenz, denn man hat schöne Sicht auf die Berge, wandert an einigen Klöstern vorbei bzw. schaut sie sich an. Und wer tibetische Fähnchen liebt, kommt voll auf seine Kosten. Unterwegs treffen wir so manchen Mönch.
Ich mag die tibetischen Mönche. Genau wie ihr begnadeter Chef, verströmen auch sie alle viel spürbare Ruhe, Gelassenheit, Großherzigkeit und Gelehrtheit. Liegen diese verströmten positiven Eigenschaften an ihrer Religion? Ich kann es nicht beantworten. Mag sein, dass es zum Teil an der Religion liegt, doch frage ich mich dann sogleich, warum sehen es die Chinesen nicht so?
Warum gibt man den sympathischen Tibetern nicht ihre Freiheit nach so vielen Jahren zurück? Ich denke, Sympathien spielen in der großen Politik keine Rolle. Da geht es letztendlich nur um Macht. Und diese Macht hat leider auch in den vergangenen Jahrzehnten unzähligen Tibetern das Leben gekostet.
Auf dem Weg runter zur Stadt Amritsar, verlassen wir langsam den Himalaya. Leider haben wir nur einen kleinen Teil der gigantischen Bergwelt erkunden können. Zum Glück regnet es nicht. Es scheint sogar die Sonne. So dürfen wir in den letzten Hügeln der Bergwelt weitere sonnige Sonderheiten erleben.
An einem Fluss sehen wir viele Menschen. Da wir immer auch neugierig sind, stoppen wir natürlich und laufen zum Fluss runter. Die anderen Neugierigen sagen uns, wir hätten Glück, denn es wird gerade eine Filmszene gedreht. Und bei den Hauptdarstellern handelt es sich um zwei ganz bekannte Bollywood- Sternchen. Alle Neugierigen recken ihre Handys in die Höhe um Bilder zu verewigen. Ich halte meine Kamera in die Höhe. Wir sind sozusagen alle Paparazzis. Ich zeige einem Handy- Paparazzi meine Bilder. Er ist begeistert und versucht mir zu erklären, ich solle die sofort der und der Zeitung schicken, denn die würden sehr gut dafür bezahlen.
Ich verliere sehr schnell die Lust an meinem neuen Job. Ist mir irgendwie zu langweilig ständig die fast die gleichen Szenen abzulichten, denn immerzu läuft da irgendwas schief.
Sie schaut nicht ängstlich genug. Er schaut nicht schmerzlich genug. Sie will neu geschminkt werden. Er braucht einen Spiegel und einen Kamm. Die Wunden an Arm und Bein müssen erneuert werden. Das Blut ist nicht rot genug. Die Fast- Kuss -Liebesszene ist zu innig, zu sexy. Sternchen haben es halt nicht leicht!
Was mir dann so nebenbei noch auffällt? Der Fluss ist wirklich überraschend sauber. 100 Meter Flussauf, 100 Meter Flussab absolut keine Spur von Müll! Ich frage mich, wie viele Leute hier gestern den Müll beseitigt haben? Haben die 5, 20 oder gar 100 Säcke voll Müll weggeschafft?
10 Minuten später tuckern wir weiter. Die Sonne lacht noch immer. Rechts von uns schlängelt sich das Wasser im Flussbett. Müll erblicken meine Paparazziaugen. Tausende Filme dreht Bollywood im Jahr. Ich rechne gedanklich hoch. Ca. 100 Millionen müsste Bollywood in Indien drehen, dann wäre das Land eventuell für kurze Zeit vom Müll befreit. Ich glaube, diese Geschichte wird mir aber keine indische Zeitung abkaufen.
Bevor uns der ganz normale indische Wahnsinn einholt, stoppen wir an einer Freiluftschule.
Die Lehrerin klärt uns auf. Sobald die Sonne scheint, findet der Unterricht draußen statt, denn die Klassenräume sind arg klein und haben natürlich keine Heizung. Da sind gefühlte 10 Grad und unendlich viel Ellenbogenfreiheit ein täglich erhoffter Segen. Wir verstehen natürlich sofort. Zum Abschied wünschen wir den Kindern und Lehrerinnen viele Sonnentage in 2016
Es ist immer wieder sonderbar, wie schnell sich die Lebensbedingungen doch ändern können. Vor 15 Minuten plaudern wir noch in smogfreier Luft mit den Lehrerinnen und jetzt, nur um die 200 Meter tiefer, nimmt uns der Smog fast den Atem. Der Smoggürtel hat uns wieder. Er wird uns täglich bis zurück nach Delhi begleiten.
Bis Amritsar tuckern wir von einer Umweltsünde zur nächsten. Chemie- Backstein- und Köhler- Manufakturen pulvern ihren Dreck gen Himmel. Filter gibt es keine in den hunderten von Schornsteinen.
Unsere Kampfmaschine wurde im Jahre 2012 geboren. Und der Vermieter sagte mir, die Enfields werden seit 2010 im Bezug auf Abgaswerte nach europäischen Richtlinien gebaut. Man möchte ja auch diese legendären Maschinen in Europa für gutes Geld verkaufen. Und ohne vernünftige Abgaswerte würde keine Einfuhrgenehmigung erteilt. Na ja, ob dies so stimmt kann ich nicht sagen, doch zumindest hatte die Aussage beruhigende Gefühle in mir ausgelöst.
Speziell nördlich von Delhi gibt es Fahrzeuge, die alles in den Schatten stellen, was wir bisher weltweit an Russauswurf und Motorgebrülle erlebt haben. Wie soll ich sie nur nennen? Drachentöter? Endzeitstimmungsmaschinen? Ausgeburt der Hölle? Ich kann mich nicht entscheiden. Die 3 Wörter in den Mixer tun, würden den richtigen Namen ergeben.
In Amritsar, nahe an der pakistanischen Grenze gelegen, holt uns das märchenhafte Indien zurück. Hier leben viele Sikh. Die Sikh gehören zu den wohlhabenden Menschen in Indien. Sie sind die besten Landwirte im Land und zudem ausgezeichnete Händler. Ihre monotheistische Religion entstand im 15. Jahrhundert und ihre Erkennungszeichen sind ein unübersehbarer langer Bart sowie der elegant gebundene Turban.
Die Sikh haben ihre eigenen Tempel. Der schönste und heiligste Tempel dieser Volksgruppe ist in Amritsar, bekannt als der Goldene Tempel.
Wir besuchen den Tempel zu drei unterschiedlichen Zeiten. Dies bedeutet natürlich, wir sind begeistert von diesem Bauwerk, der ganzen Anlage und der genialen Tempelorganisation.
Zu jeder Tages- und Nachtzeit ergibt sich eine andere Stimmung. Und jede dieser Stimmungen ist einfach nur als fantastisch zu benennen. Unterstützt wird dieser Tempelrausch durch ständige wohltuende Gesänge in angenehmer Schlummer- Lautstärke. 24 Stunden durchfließt der Gesang den Tempel, gleitet sacht über die Wasserfläche des angelegten See und durchströmt sehr wohltuend die täglich um die zehntausend Besucher.
Alles ist blitzblank sauber. Wenn man Hunger hat, kann man in einem der großen Speisesäle Essen und Trinken bekommen. Es ist kostenlos! Als Dankeschön darf man danach beim Abwasch helfen.
Der Goldene Tempel ist sozusagen unser Indien- Super- Abschiedsgeschenk, denn nur noch 2 Tagesfahrten trennen uns von Delhi.
Nach 10.290 Tucker- Kilometern treffen wir im chaotischen Delhi ein. Vier Monate liegen hinter uns. Die Monate waren gefüllt mit unzähligen Erlebnissen. Freude und Ärger, Kälte und Hitze, Gastfreundschaft und kleine Gaunereien, gutes und schlechtes Essen, Verständnis und Unverständnis, viele neue Einsichten und auch gute und schlechte Gerüche waren unsere Begleiter. All diese begleitenden Umstände, wurden von Menschen erschaffen, von Menschen gelebt und somit erlebt. Diese menschlichen Begegnungen am Wegesrand sind für mich immer die Würze einer Reise, das Salz in der Suppe, der Honig für meine erlebten Geschichten. Für die würzigen, süßen, manchmal auch etwas sauren Zutaten bin ich den Indern überaus dankbar. Ich mag sie!
Fast am Ende unserer Indientour gelingt mir ein Foto, welches ich persönlich besonders mag. Es ist nur eine Momentaufnahme. Und doch hat es große Aussagekraft für mich. Die Aussage bezieht sich nicht nur auf Indien, denn das Foto könnte ja so auch aus dem Iran, dem Jemen, Ägypten, aus Äthiopien und vielen weiteren Ländern stammen.
Ein junges Paar sitzt eng umschlungen auf einer fast einsamen Parkbank. Einsame Zweisamkeit ist in vielen Ländern ein ersehntes Privileg, jedoch ein nur selten erfüllbares Privileg. Neben den verliebten Gedanken kreisen die Gespräche der beiden garantiert auch um eine menschenwürdige Zukunft, um Familie, um einen Job oder vielleicht auch nur ums zukünftige tägliche Essen.
In vielen Ländern unserer Erde haben sich in den vergangenen 20 Jahren die Bevölkerungszahlen verdoppelt. Oft sind in diesen Ländern 50 Prozent der Einwohner unter 25 Jahre alt. Alle diese jungen Menschen brauchen, wollen Arbeit , benötigen ein Dach über den Kopf, ersehnen sich ein menschenwürdiges Leben. Was ich nur hoffen kann, die berechtigte Gedankenwelt all dieser jungen Menschen möge sich erfüllen.
Ach ja, Gi liebt Indien nun wie eine Mutter. Und als Mutter liebt man ja auch die kleinen Fehler seiner Kinder sehr großherzig.
Und garantiert werden wir auch Kampfmaschine nie vergessen. Sie war uns ein guter Kamerad.
Dankeschön für Ihr Interesse!!!