Im Land des Kaffee, der Kirchen, der Schuhe, der Märkte und ...
Äthiopien ist Kaffeeland!!! Schon diese leckere Versuchung zwingt uns, besonders mich, als stetigen Kaffeeschlürfer, dieses absolut interessante Land erneut zu bereisen. Während unserer Weltradeltour waren wir dort für 2 Monate unterwegs. Es wird oft behauptet, wer Indien und Äthiopien beradelt hat, kann auch durch alle anderen Länder dieser Welt radeln. Er ist gerüstet, vorbereitet, und nichts wird den Radler bremsen, abschrecken oder verzweifeln lassen. Da ist was dran, denn beide Länder sind für ihre Widersprüche bekannt.
Äthiopien ist kein einfaches Reiseland. Natürlich ist dabei auch entscheidend, wie man unterwegs ist. Mir ist immer wichtig, dass ich andere Reiselustige nicht abschrecken möchte ein Land zu besuchen, denn jedes Land hat es verdient besucht zu werden. Umso einfacher man aber unterwegs ist, umso intensiver wird man in der Regel ein Land, seine Menschen, seine Schönheiten, auch seine Armut, seine Rustikalität und Widersprüche erleben können.
Schon der Flug vom Oman nach Äthiopien ist für uns kein normaler Linienflug, denn im ausgebuchten Flieger sitzen über 95 Prozent Frauen. Man staune weiter, denn jede Frau darf bis 40 kg Gepäck beim Check-in auf das Band wuchten. Die Frauen sind Gastarbeiterinnen auf dem Rückflug in ihre Heimat. Sie sind aufgekratzt, freuen sich nach vielen Monaten endlich ihre Familien zu sehen. Der Flug ist somit nicht langweilig. Sehr schnell sind wir nämlich irgendwie seelenverwandt, reden in Englisch und Arabisch über ihr Gastarbeiterland und natürlich auch über ihr Heimatland. Sie erzählen ihre Geschichte. Wir erzählen unsere Geschichte. Und dabei betonen wir, wir mögen Äthiopien, denn Äthiopien ist immer für Überraschungen gut.
Warum sind keine äthiopischen Männer an Bord, möchte ich wissen. Die Frauen lachen.
Äthiopische Männer sind schlechte Kindermädchen, sind schlechte Kassiererinnen, sind schlechte Haushälterinnen, sind nicht so belastbar, nicht so mutig, nicht so neugierig und, und, und … Ja, sage ich. Männer sind halt weltweit nur Männer. Die Frauen lachen noch mehr.
3 von den Frauen können besonders laut lachen. Die drei sind sehr stark geschminkt, sind anders gekleidet, tragen auch kein Kopftuch wie ihre Landsmännerinnen. Im Oman gibt es, wenn auch sehr, sehr versteckt, eine Rotlichtszene, geht es mir dabei durch den Kopf.
Was macht ihr in Äthiopien, wollen die Frauen wissen. Vier Wochen wollen wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchs Land reisen. Orte, welche wir von unserer Radeltour kennen, wollen wir erneut besuchen. Und dabei wird interessant sein, wie hat sich euer Land verändert?
Lasst euch überraschen, sagt eine der Frauen, und fügt stolz hinzu, in Addis Abeba gibt es jetzt eine Hochbahn.
Die Hochbahn gibt es wirklich. Wir benutzen sie aber nicht. Auf der Suche nach einem Zimmer, laufen wir durch die große Stadt, fühlen uns dabei fast sofort heimisch in der 5 Millionenstadt. Wir merken sehr schnell einen Unterschied zum Oman. Beim tragen unser Rucksäcke fällt uns die Atmung schwer. Addis liegt zwischen 1800 bis 2500 Höhenmetern über dem Meeresspiegel. Sie ist die dritthöchst gelegene Hauptstadt der Welt. Um genug Anfangs- Luft zu bekommen, und um unseren Hunger zu stillen, setzen wir uns in eines der unzählig vielen Freiluft- Restaurants.
Gi mag sehr gerne Pellkartoffeln. Also bestellt sie für uns eine Portion gewürzte Pellkartoffeln und Tee. Ich bin kein Pellkartoffel- Freund, doch es wird für unsere Addis- Zeit unser Lieblingsrestaurant. Dies liegt nicht nur an den Kartoffeln. Die sympathische Chefin ist ein Grund. Sie spricht Arabisch, war in Saudi Arabien als Gastarbeiterin und hat sich vom angesparten Geld ihren Traum vom eigenen Geschäft erfüllt. Solche oder ähnliche Gastarbeitergeschichten werden wir noch oft hören. Es sind zumeist Frauengeschichten, Geschichten welche daherkommen mit viel Stolz, Lachen und leuchtenden Augen.
Gi erkundigt sich bei unserer Kartoffelprinzessin nach den aktuellen Preisen. Was kostet Zucker, Brot, Wasser und was kosten Kleider? Nach den Kleidern reden die zwei von Schuhen. Und bei dem fraulichen Fachgesprächen fällt mir auf, es hat sich neben der Hochbahn auch weiteres geändert in Addis. Und diese Änderung betrifft genau den wichtigen Stichpunkt Schuhe, denn Schuhe zu besitzen war noch vor einigen Jahren für viele Äthiopier purer Luxus. Cirka 50 Prozent der Bevölkerung hatte keine Schuhe! Ich schaue den Menschen auf die Füße. In der Hauptstadt hat eigentlich nun jeder Schuhe an den Füßen. Auf dem Markt nebenan, und auf den Märkten im ganzen Land, stapeln sich die Schuhe. Sie sind aus Plastik und stammen aus China.
Sie sind relativ billig, kosten umgerechnet knapp einen Euro und finden reißenden Absatz. Zum Glück auch, denn mit dem Schuhproblem ging und geht noch immer in Äthiopien ein weiteres Problem einher. Vor wenigen Jahren saßen in den Straßen von Addis noch viele Leprakranke. Lepra ist eine Infektionskrankheit. Mangelnde Hygiene ist dabei die treibende Kraft für diese fürchterliche Krankheit. Wenn man ständig barfuß unterwegs ist, dabei die Körperhygiene vernachlässigt, ist die Wahrscheinlichkeit sich die Krankheit einzufangen, nicht unbedingt gering. Natürlich liegt es nicht nur an fehlenden Schuhen, doch ohne Schuhe und zudem ohne Hygiene ist die Wahrscheinlichkeit weit höher angesiedelt.
Und natürlich bedeutet es nicht, da nun keine Leprakranken mehr in den Straßen von Addis sichtbar sind, dass es diese Krankheit nicht mehr in Äthiopien gibt.
Ich denke, die Leprakranken dürfen da nicht mehr sitzen. Die meisten haben durch Betteln versucht irgendwie zu überleben. Sie passten der Obrigkeit einfach nicht mehr ins Stadtbild. Für uns selbst, ist durch das ,,Wegräumen‘‘ der Leprakranken, Addis nicht attraktiver geworden. Die Stadt ist nicht unbedingt als Schönheit zu bezeichnen. Was ich aber als schön empfinde, endlich haben fast alle Äthiopier eigene Schuhe.
Nach einigen Tagen Pellkartoffeln und genügend Luftzufuhr wollen wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln in den Norden. Wir freuen uns auf die Berge. Wir freuen uns auf Lalibela.
Bis Lalibela sind es nur um die 350 Kilometer Luftlinie. Wir wissen aber, es wird dauern, denn die Straßen sind schlecht, die Busse meist sehr rustikal und bis Lalibela lohnt außerdem so mancher Zwischenstopp.
Einen Zwischenstopp genießen wir in Bati. Von der Hauptstraße sind es nur 36 Kilometer bis Bati. Doch diese 36 Kilometer haben es in sich. Die Straße ist eine fürchterliche Piste. In der Nacht ist zudem ein Hang ins Rutschen gekommen. Keine Seltenheit hier in der Gegend, denn die Berge stürzen regelrecht bis runter ins Danakil-Tiefland, sind somit auch die natürliche Wetterscheide und der relativ viele Regen sorgt einfach für so manchen Erdrutsch.
Drei Stunden hoppeln wir bis Bati. Es lohnt sich aber, denn immer Montags ist hier einer der interessantesten Märkte von ganz Äthiopien. Tausende Bewohner vom Tiefland und den Bergen treffen sich sozusagen auf halber Höhe, verkaufen oder tauschen ihre Waren, erzählen sich die neusten Nachrichten, feilschen unerbittlich um die Preise.
Manche Händler sind bis zum Marktplatz 3 Tage unterwegs. Die meisten der so wichtigen Sachen werden noch immer mit Kamelen zum Markt transportiert.
Alles was man braucht, glaubt zu brauchen oder was man nicht braucht, gibt es zu erhandeln. Salz, Zucker, Ziegen, Plastikeimer, Gemüse, Obst, falsche Haare, Schmuck, Kondome und, und … Und natürlich gibt es auch Schuhe, sogar Schuhe der ganz besonderen Art. Äthiopien ist aus unterschiedlichsten Gründen ein armes Land. Wer sich die chinesischen Plastikschuhe nicht leisten kann, kauft sich Gummilatschen für umgerechnet 50 Eurocent. Ja, die Äthiopier sind, oftmals aus der Not geboren, sehr findige Menschen, denn manche von ihnen basteln sogar aus alten Autoreifen die so wichtigen Schuhe.
Gi gönnt sich neben ihren geliebten Pellkartoffeln auch ein paar Latschen aus chinesischer Fertigung. Das dauert, denn die Größe soll natürlich stimmen, und noch wichtiger, die Farbe soll, muss stimmen. Grüne müssen es unbedingt sein. Diese findet sie erst am Rand des Marktes, da wo die reicheren Händler wohnen, ihr Geschäft haben.
Tage später trudeln wir in Lalibela ein. Lalibela ist bekannt für seine Felsenkirchen. Der Name Felsenkirchen lässt vermuten, dies muss was ganz Besonderes sein. Und so ist es auch, denn die vielen Kirchen (erbaut 12./13. Jh.) sind in der Regel ein in den Fels gehauenes Labyrinth, oft mit unterirdischen Gängen und mittelalterlich anmutenden Priestern davor, welche Stolz ihr Kreuz tragen und immer eine Spende erwarten.
Natürlich werde ich jetzt nicht alle Kirchen, denn in und um Lalibela soll es um die 200 Kirchen geben, aufzählen. In Lalibela gibt es aber 2 größere Gruppen von Felsenkirchen. Und diese sollte man sich wirklich anschauen.
Eine der schönsten Einzelkirchen ist die Bete Gyorgis. Sie befindet sich im Ort Lalibela, kann also auch von Nichtwanderern sehr leicht erlaufen werden. Und dies sollten sie unbedingt tun, denn man erhält einen prima Einblick von all der genialen Schaffenskraft.
Diese Bete Gyorgis ist eine Felsenkirche, welche man als richtiges Gebäude im Fels bezeichnen kann. Denn sie wurde nicht nur in den Fels getrieben. Der Kreuz- Gebäude- Felsenblock wurde auch noch vom Fels freigestellt. Man kann sich unschwer vorstellen, wie lange da mühsam in und um den Fels freigemeißelt wurde. Die gehämmerte Tiefe beträgt gigantische 12 Meter. Hut ab vor den Meißlern!
Wir bleiben einige Tage in Lalibela. Natürlich wegen der Kirchen, aber auch wegen der Landschaft, denn die ganze Gegend ist ein Wanderparadies. Gi soll sich ja auch nicht umsonst ihre "Grünen" gekauft haben.
Lalibela liegt auf ca. 2500 Höhenmetern. Spielerisch verteilen sich die Gehöfte an den Hängen des Lasta- Gebirges. Die größte Erhebung beträgt immerhin 4180 Meter. Wir schaffen es zumindest bis auf ca. 3200 Höhenmeter. Es sind Tageswanderungen, welche uns die Schönheit der Berge nahe bringen.
Wir haben nie einen richtigen Plan, laufen einfach den Straßen entlang, biegen auf unbefestigte Wege ab oder folgen den Einheimischen auf ihren Trampelpfaden. Trampelpfade gibt es überall. Äthiopien ist ein sehr dicht bevölkertes Land. Für mich ist es das Land der Läufer, denn egal wo man auch ist, ständig sieht man schnell laufende Menschen. Oft sind sie mit ihren Eseln unterwegs. Sie laufen ins nächste Dorf, laufen zu ihren Äckern, in die Schule, ins Krankenhaus oder besuchen Verwandte. Die Entfernungen sind nie kurz. Das Leben der Äthiopier ist hart.
Für uns ist es nicht hart, denken wir. Wir sind ja zum Vergnügen hier, wollen nur sehen, begreifen, auch lernen und genießen. Das Genießen, das Lernen, das Verstehen, das Begreifen und das Vergnügen ist oft nicht einfach, manchmal gar unmöglich, merken wir sehr schnell, denn Armut ist an jeder Ecke spürbar, oft sichtbar, manchmal nur zu erahnen oder zu riechen. Trotz ihrer Armut sind die meisten Menschen sehr stolze Menschen. Ein junger Mann lädt uns in sein Haus ein.
Acht Menschen leben im Haus. Im Untergeschoss ist der Stall für die Kuh, für den Esel und das Federvieh. Das Obergeschoss ist nur ein einziger Raum. Der ca. 15 Quadratmeter Lehmbodenraum ist der Schlafraum für alle, gleichzeitig auch die Küche, das Wohnzimmer und das Spielzimmer für die Kinder. Schränke gibt es nicht. Warum auch? Sie besitzen kaum Wechselkleidung, sie haben keine Bücher, sie haben keine Porzellanfiguren, keine Ordner, keine Kamera, keinen Computer, keine Lampen, keine Handtücher, keine Dusche, keine Bettwäsche, kein Mobile, kein Sofa, keinen Kühlschrank, keinen Fernseher, keine Stühle, keinen Tisch, keinen … Und sie haben keinen Strom.
Sie haben einige selbst geflochtene Körbe für Nahrungsmittel, einige mit Stroh gefüllte Unterlagen, etliche gegerbte Kuhhäute zum Schlafen, einige dünnen Decken, einige verklumpte Kissen, wenige Ton- oder Plastikgefäße, einen großen Tonkrug für Wasser, einen Strohbesen, 5 Tassen, zwei Messer, einige Löffel, ein Tablett und weitere Kleinigkeiten. Und sie haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Strom wünschen sie sich sehnlichst. Es würde viel erleichtern, sagen sie. Der angebotene Kaffee schmeckt bitter. Sie haben keinen Zucker.
Auf dem Rückweg bestaunen wir am Ortsrand von Lalibela eine Getreidemühle. Sie passt irgendwie zum Acht- Personenhaus. Es ist eine andere Welt, eine Welt die uns eigentlich fremd ist.
Und doch bin ich glücklich über die Zeitmaschinen- Zusammenkunft, denn der Raum, die Menschen, das Licht, die Maschinen und die staubige Luft wirken wie ein Gemälde aus längst vergangener Zeit auf mich. Nur das laute Geratter der Maschinen holt mich zurück.
Von Lalibela aus versuchen wir weiterhin mit unterschiedlichsten fahrbaren Untersätzen unsere Tour fortzusetzen. Natürlich klappt dies irgendwie. Jedoch ist immer viel Zeit nötig, denn fahrbare Untersätze sind noch immer außerhalb der Hauptstadt Mangelware.
Und immer wenn Mangelware herrscht, ist dafür die Nachfrage besonders groß. In jedem fahrbaren Untersatz, ob nun groß oder klein, herrscht ordentlich Gedränge. Keine gute Option für Menschen mit Platz- oder Berührungsängsten. Wir haben zum Glück diese Ängste nicht.
Besonders Gi empfindet die Holperfahrten immer als sehr interessant. Sie mag die Zwangspausen, wenn es eine Reparatur gibt. Sie mag die Pausen, wenn eine Rast eingelegt wird. Sie mag die vielen Unterhaltungen im Bus. Sie mag auch die Nüsschen und das Zuckerrohr, welches regelmäßig angeboten wird. Sie mag das geordnete Chaos. Sie mag nur nicht, wenn uns die Helfer der Buspiloten, nämlich die Kassierer, zu viele Münzen oder gar Scheine berechnen wollen. Deshalb fragt sie immer die Einheimischen, was der richtige Preis ist. In der Regel sind die Kassierer ehrliche Typen, jedoch gibt es auch unter ihnen sehr clevere Trickser.
Ich interessiere mich da mehr für die Technik. Hoffe die Stoßdämpfer halten durch, hoffe die Ziegen und Schafe auf dem Busdach mögen überleben und hoffe unsere Rucksäcke fallen nicht vom Dach oder aus den rustikalen Schließfächern.
Fast frische Luft gibt es am Tanasee. Er ist der größte Hochland- See Äthiopiens auf ca. 1800 Metern. Gespeist wird er von vielen kleinen Flüssen. Dazu gehört auch der Tinish Abay. Und dieser ist der eigentliche Quellfluss vom Blauen Nil. Berühmt ist der See auch wegen seiner vielen Inselklöster. Natürlich schauen wir uns diese an.
Weit interessanter finde ich aber die vielen Papyrusboote. Noch immer benutzt man sie zum Transport von Waren. Da wundert man sich nur, denn die sehr leichten Boote tragen unglaublich viel Gewicht. Zwischen 2 und 10 Meter sind sie lang. Die großen werden mit bis zu einer halben Tonne beladen. So mancher Inselbewohner muss sein Schilfboot fast täglich benutzen, denn auf den Inseln gibt es keine Schule. Die Mädchen und Jungs sind sehr mutig.
Mut gehört schon dazu, mit solch einem kleinen Papyrusboot übers Wasser zu gleiten. Es gibt nämlich zudem auch Nilpferde im See. Und Nilpferde können wirklich sehr gefährlich sein. Um sie nicht zu reizen, ist Abstand die wichtigste Überlebensregel. Und dies ist ernst gemeint.
An den Nilfällen, sie sind nur ca. 35 Kilometer vom See entfernt, möchten wir das "Dampfenden Wasser“ sehen. Viel ist nicht mit dampfen, denn es ist gerade Trockenzeit und das nahe Kraftwerk pocht zudem auf sein Wasserrecht. Egal, die „Schrumpffälle“ sind ja trotzdem irgendwie schön anzuschauen.
Und mir fällt beim Betrachten der nicht großartig dampfenden Fälle ein, dass von hier aus schon sehr mutige Niltouren von Abenteurern unternommen wurden. Rüdiger Nehberg gehört dazu. 1975 fuhr er gemeinsam mit Freunden auf einen Floss den Nil entlang. In der wirklich gefährlichen Nilschlucht kam es dabei zu einem noch weit größeren Problem. Bei einem Überfall wurde einer seiner Freunde durch einen Schuss tödlich getroffen. Über 40 Jahre ist diese Traurigkeit nun her. Was mich aber am nächsten Tag wundert, noch immer steigen hier bewaffnete Männer in Autos, Minibusse und auch große Busse.
Während unserer Weltradeltour wurden wir damals hier in der Gegend öfters gewarnt. Passt auf euch auf, war ein gängiger Satz. Zum Glück hatten wir aber keine größeren Probleme bezüglich Schießprügel. Mit Steine werfende Kinder waren unser größtes äthiopisches Radel- Problem. Nicht angenehm damals, jedoch irgendwie händelbar.
Diesmal wirft uns niemand mit Steinen. Egal, wo wir auch entlang des Nildurchbruchs auftauchen, die Kinder sind nett.
Und da sie nett sind, sind natürlich auch wir sehr nett. Immer haben wir viel Spaß zusammen. Der tägliche Höhepunkt, bei irgendwelchen zufälligen Dorfbegegnungen, sind immer Gis Fingerspiele. Sie wollen es wissen, probieren bis die Finger eigentlich schon keine Lust mehr dazu haben. Es sind Kinder, Kinder wie überall auf der Welt. Es ist leicht Kindern eine Freude ohne Geld zu bereiten.
Die Fingerspiele begleiten uns bis nach Harar. Harar mögen wir sehr, denn die Stadt ist eine farbenfrohe Stadt mit Pferdekutschen, quirligen Märkten, alten Kirchen, alten Moscheen und sie hat eine ganz besondere Altstadt. Diese ist von einer dicken Mauer umgeben. Und da eine Mauer um eine Stadt eigentlich afrikanisch sehr untypisch ist, ist schon diese Mauer ein Anziehungspunkt der ganz besonderen Art. Auf nur ca. 1 Quadratkilometer Ummauerung leben zudem um die 40.000 Menschen. Acht Tore dienen als Einlass.
Früher wurden die Stadttore in der Nacht verschlossen. Dies hatte einen ganz besonderen Grund. Nachts kamen nämlich die Hyänen an und in die ummauerte Stadt. Sie waren sozusagen die natürliche Müllabfuhr. Löcher, welche zur Entwässerung dienten, wurden als Hyänen- Schlupflöcher benutzt. Da die Müllabfuhr auch in der heutigen Zeit mit Mängel behaftet ist, schleichen noch immer Hyänen nachts in die Stadt. Einige konnten wir von unserem Zimmer aus beobachten. Bei Tag sind die Menschen zum Glück aber die Hauptattraktion in der ummauerten Stadt.
In einer der Gassen - es ist die Gasse der Schneider - fällt mir ein Junge auf. Ich beobachte ihn lange. Was mich fasziniert ist sein fröhlicher Gesichtsausdruck. Trotz viel Arbeit in seinem Alter wirkt er nicht traurig, nicht gelangweilt und auch nicht fehlplatziert. Er scheint einfach zu seiner Nähmaschine zu gehören.
Er ist mit ihr verbunden. Seelenverwandt fällt mir da nur ein. Wenn Seelenverwandt, dann kann es ja auch nicht schlecht sein, versuche ich mir einzuhämmern.
Kinderarbeit ist in Äthiopien keine Mangelerscheinung, leider! Jedoch scheint es da gewaltige Unterschiede zu geben, denn abgemagerte Kinder in Steinbrüchen, ausgemergelte Mädchen auf Baustellen oder Kleinkinder beim Steine klopfen, haben schon oft unsere Gehirnzellen in Äthiopien malträtiert. Zumindest rede ich mir bei diesen Gedankengängen da noch die quälenden Unterschiede ein.
Ich frage ihn, ob ich einige Fotos machen darf. Er freut sich darüber, willigt lächelnd ein. Ich bin fasziniert von seinen flinken Fingern, von seinem Umgang mit der großen Schere und dem dabei stetigen und somit stetig glücklichem Gesichtsausdruck.
Erst am Abend, beim beschauen der Bilder, wird mir bewusst, dass diese Seelenverwandtschaft keine sein kann, keine sein darf, denn das Porträtfoto lässt mich erneut überlegen. Er ist und bleibt nur ein kleiner arbeitender Junge.
Äthiopien ist kein einfaches Reiseland für den Kopf. Armut, Ungerechtigkeiten und Widersprüche sind überall sichtbar. Dies gilt auch für Harar. Elendsviertel umklammern die Stadt. Bettler gehören zur ganz normalen Stadtansicht. Die Wasserversorgung der Stadt ist ein großes Problem. Viele Menschen haben keine Bleibe. Sie schlafen auf der Strasse.
Wenn uns all diese Traurigkeiten an so manchen Tagen regelrecht überhäufen, so reden wir darüber. Wir reden über den Sinn der Welt, und somit auch über den Sinn der Menschheit. Seit wir im Museum in Addis Abeba Lucy einen Besuch während unserer Weltradeltour abgestattet hatten, neigt Gi dazu, Lucy alle Schuld am Elend unserer Erde zu geben. Sie sagt dann immer, Lucy ist an allem Schuld. Hätte es Lucy nicht gegeben, gäbe es viele Probleme auf der Erde nicht.
Lucys Skelett wurde 1974 in der Danakil- Ebene ausgebuddelt. Um die 3 Millionen Jahre soll sie alt sein. Das Besondere an ihr? Die kleine (105 cm klein) Lucy lief aufrecht.
Und Gi behauptet nun, ab da begann das Elend, denn Lucys Clan sind unsere Vorfahren. Wir sind sozusagen alle Kinder von Lucy. Sie ist unsere Ur, Ur, Ur … Großmutter. Womit Gi natürlich nicht ganz Unrecht hat, denn die Bevölkerung unserer so geliebten Erde, hat ihren Ursprung genau aus diesem Grabenbruchgebiet. Die Lucys wanderten in die Welt. Ich könnte auch schreiben, eigentlich sind wir alle Äthiopier.
Das Lucys Wanderdrang die Erde so tiefgreifend verändern würde, wusste sie bestimmt nicht, denn über den Sinn der Menschheit auf unserer Erde, wurde damals sicherlich bei Familientreffen nicht gesprochen.
Was mir aber bewusst ist, dass Lucy bestimmt nicht unbedingt sehr stolz auf ihre Ur, Ur, Ur … Enkel sein würde, denn das was uns Lucy schenkte, nämlich die Möglichkeit unser Dasein im Einklang mit unserer geliebten Erde zu erleben, wird aus unterschiedlichsten von Menschen gemachten Gründen immer mehr zerstört.
Trotz all dieser von Menschen gemachter Probleme, liebe ich die Welt noch immer, besonders nach leichten Phasen der Resignation. Auch ich bemühe dann nämlich immer Lucy. Jeder braucht halt auch irgendwie seinen eigenen Scherz- Schmerz- Prügelknaben. So auch geschehen an einem Morgen, als wir bereits auf dem Rückweg nach Addis sind.
Ich verlasse mit Gi unser preiswertes Hotel in der Stadt Adama. Wir wollen nur schnell über die Straße, denn da befindet sich direkt gegenüber ein Geldautomat. Mit frischem Geld in der Börse wollen wir die Hotelrechnung begleichen und uns danach gleich einen Bus nach Addis greifen. Halb auf der Straße, legt ein großer Bursche seinen Arm um meine Schulter, drückt mir dabei irgendwie kräftig in den linken Arm und schreit mir was ins rechte Ohr.
Instinktiv greife ich mit der rechten Hand hoch zu meinem linken Arm. Dort angekommen, lässt er mich auch schon los. Sonderbar, denke ich. Ich laufe nur um die 5 Schritte weiter, da sagt mir mein Gehirn, Junge greife doch sofort in deine rechte Hosenbeintasche. Ich greife. Ich spüre nichts. Komisch denke ich, da müsste doch meine Geldtasche drin sein. Die hatte ich noch im Zimmer in die rechte Hosenbeintasche getan. Es sind ja nur wenige Meter bis zum Automat. Und da passiert nichts, war meine Eingebung. Da auch Eingebungen täuschen können, suche ich mich selbst ab, greife in alle Taschen. Um die Selbstleibesvisitation ja auch ordentlich zu beenden, entledige ich mich meines Hüftgürtels. Da sind mein Pass drin, zwei Geldkarten sowie Scheine in Euros & Dollars und auch andere wichtige Papiere. Der Gürtel ist immer unter der Hose platziert. Da muss einer schon tüchtig an die Wäsche um den zu bekommen. Die Börse ist natürlich nicht im Hüftgürtel.
Sofort schaue ich nach dem Kerl. Ich sehe viele Menschen. Nur den Kerl sehe ich nicht. 15 Sekunden reichen um sich in Luft aufzulösen.
Gi war hinter mir. Ein zweiter Stinkstiefel hat sie geschupst. So hat sie nicht mitbekommen, was da eigentlich lief.
Gi, meine Geldtasche ist geklaut.
Gibt es nicht. Schau nach in all deinen Taschen.
Die ist weg, glaub es mir.
Für mich bricht eine Welt zusammen. Ich stehe da wie ein Depp. Lasse mich beklauen.
Es ist ein schlechter Morgen.
Drei Stunden später sitzen wir in einem Freiluftresto. Uns gegenüber sitzt ein Mann. Er schlürft an seiner Limo. Er gefällt mir. Ich lichte ihn ab. Er freut sich. Oft drücke ich den Auslöser. Ich muss mich einfach ablenken.
Bei der Polizei lief alles ab wie erwartet. Unser Fall kommt handschriftlich ins Märchenbuch, wird dort für immer bleiben und nie ein Häkchen als erledigt bekommen.
Ich ärgere mich über mich selbst. Ich, der dachte, mir kann so was nicht passieren, falle auf diese Schurken rein. Ich fühle mich als Greenhorn, als Verlierer, als absolut grüner Grünschnabel. Nur eines wäre nötig gewesen, um den Diebstahl zu verhindern. Ich hätte, wie ich es sonst immer tue, alles in meinem Hüftgürtel direkt am Körper unter dem Hosenbund aufbewahren müssen. Der Dieb hätte ins Leere gegriffen. Absolut sicher wäre er leer ausgegangen. Eigentlich ganz einfach.
Wir verlassen das Restaurant. Nach nur ungefähr 50 Metern spüre ich einen Druck auf meiner Schulter. Alle Alarmsignale durchzucken meinen Körper. Ich drehe mich blitzschnell um, hebe meinen Arm zur Abwehr. Fehlalarm signalisiert mein Gehirn sofort, denn ich schaue in ein verwundertes Gesicht. Es ist der Limo- Mann. Er gibt mir meine Kamera, welche ich vor lauter Lucy- Klauerklärungen vergessen habe.
Er bringt mir nicht nur meine Kamera zurück, er bringt mir auch den menschlichen Sonnenschein zurück. Ich bin happy. Lucy ist an allem Schuld, flüstere ich Gi ins Ohr.
Drei Tage später sitzen wir im Flieger. Der Abschied von Äthiopien fällt uns nicht leicht. Wir mögen das Land, denn Äthiopien ist immer für Überraschungen gut. Hat Lucy dafür gesorgt? Keine Ahnung! Ist auch egal. Wir freuen uns aufs nächste Land. Es wird die Türkei sein. Dort wollen wir unsere etwas längere Tour gemütlich ausklingen lassen. Die erhoffte Gemütlichkeit wird zum Alptraum werden. Im Flieger wissen wir dies natürlich noch nicht. So genießen wir, völlig entspannt, den guten Service von Türkisch Airline und freuen uns auf eines unserer Lieblingsländer.
Dankeschön für Ihr Interesse!!!